Lotte Lehmann war mit ihrer künstlerischen Ausdruckskraft und der Einzigartigkeit ihrer Stimme eine der bedeutendsten Sängerinnen des 20. Jahrhunderts. Ein Kritiker schrieb einmal über sie: Ihre Stimme jauchzte lerchenhaft auf, um nachtigallensüß zu verschweben. Sie besaß die so seltene Begabung, dem Wort denselben Stellenwert zu verleihen wie der Musik. Wenn sie vom Frühling sang, dann glaubte man ihr förmlich den frischen Hauch des Frühlings, wenn sie die Rose besang, den Duft der Rose zu spüren. Darüber aber stand der Glanz ihrer einzigartigen Persönlichkeit, der in seiner Unnachahmlichkeit fast jeden berühre, der diese außergewöhnliche Künstlerin noch persönlich erleben durfte.
Lotte Lehmann wurde am 27. Februar 1888 in Perleberg, einer Kleinstadt in der Mark Brandenburg in einer sangesfreudigen Beamtenfamilie geboren. Im Jahre 1902 zogen die Lehmanns nach Berlin, in der Absicht, sich zu verbessern. Dort besuchte Lotte eine höhere Mädchenschule, denn auf Wunsch des Vaters sollte sie Lehrerin werden. Da Lotte aber immer schon gern sang, wurde man auf ihre auffallend schöne Stimme aufmerksam und ihre erste Gesangspädagogin war Fräulein Helene Jordan an der königlichen Hochschule für Musik. Doch bis zum Ende ihres Studiums mußte die angehende Sängerin noch so manche Hürde überwinden. Wegen einer Erkrankung ihrer Lehrerin [nicht genau] wandte sie sich hilfesuchend an die damals sehr berühmte Stimmpädagogin Etelka Gerstner. Die nahm Lotte sogleich als Schülerin ihrer Privatschule auf und übergab ihre weitere Ausbildung an Fräulein Eva Reinhold.
Doch die angehende Sängerin fühlte sich durch die Lehrmethoden ihrer neuen Lehrerin eingeengt und unverstanden. Nach einigen Monaten kam es zum verzweifelten Bruch zwischen ihr und Fräulein Reinhold, die meinte, Lotte Lehmann hätte weder Talent noch Stimme. Verzweiflung – Anklagen – Selbstbeschuldigungen – Zusammenbruch. Aber ihr Entschluß, doch noch eine anerkannte Künstlerin zu werden, war nun schon zu tief in ihrem Herzen verankert gewesen.
So schrieb sie an Mathilde Mallinger, die das Evchen in der Meistersïnger-Uraufführung gesungen hatte, und durfte ihr alsbald vorsingen. Frau Mallinger verstand es, auf Lotte in der rechten Art und Weise einzugehen. Erst sie erschloß ihre Stimme. Dort studierte die junge Sängerin etwa ein volles Jahr, und ihre Lehrerin sah, daß sie schon so gute Fortschritte machte, um ins Engagement zu gehen.
Nach etlichen Probesingen bei verschiedenen Agenturen, wobei sich Lotte überdies noch sehr schüchtern und ungeschickt benahm, gelang ihr dann doch der Sprung auf die Bretter, die die Welt bedeuten. Ihr erstes Engagement erhielt die blutjunge Anfängerin im Jahre 1910 an das Hamburger Stadttheater, wo sie es anfangs nicht gerade leicht hatte.
Nach vielen kleinen Nebenrollen gelang ihr dann 1914 der Durchbruch, und zwar im jugendlich-dramatischen Fach als Elsa in Wagners Lohengrin. Diese Rolle begründete den anhaltenden Erfolg und stetigen Aufstieg Lotte Lehmanns. (Mann kann die allererste Aufnahme Lotte Lehmanns aus dem Jahre 1914 hören.)
Weitere Erfolge blieben nicht aus, und mit der Zeit stärkte sich auch ihr Selbstvertrauen. Das aber ganz besonders, als sie bei einem Gastspiel Enrico Carusos am selben Abend als Euridike in Glucks Orpheus und Euridike auf der Bühne stand und danach die anerkennenden Worte des großen Sängers empfing.
Als sie der Direktor der Wiener Hofoper, Hans Gregor in einer Carmenvorstellung als Michaela hörte, erhielt sie sofort einen Vertrag nach Wien, wo sie von 1916 bis 1937 engagiert war und auch ihren Wohnsitz hatte. Wien und die Hofoper – Das war für die junge Sängerin der Traum aller Träume. Doch es war Krieg, und sie kam in eine schwere Zeit hinein.
Anfangs kam sie natürlich als Brandenburgerin bei ihren neuen Kollegen nicht sonderlich an, doch sie lernte rasch. Mit der Zeit wurde sie zum Inbegriff der wienerischsten Sängerin und sie erhielt vom Wiener Publikum das höchste Adelsprädikat, das man in Wien erreichen kann : Sie wurde “Die Lehmann”.
Im Jahre 1916 also begann ihre über 20 Jahre andauernde Mitgliedschaft zum Ensemble der Wiener Staatsoper. Hier erhielt sie auch sogleich die Aufgabe zugeteilt, den Komponisten in der Uraufführung der Zweitfassung von Ariadne auf Naxos zu singen. Übrigens verkörperte sie in dieser Oper später auch die Titelrolle. Es folgten weitere Strauss-Partien, wie die Färberin in der Frau ohne Schatten sowie die Christine in Intermezzo und die Arabella in gleichnamiger Oper. Doch eine Partie Richard Straussschen Schaffens wird für immer mit dem Namen Lotte Lehmanns verbunden bleiben: Die der Feldmarschallin, Fürstin Werdenberg im Rosenkavalier. Sie spielte nicht, sie war die Marschallin.
In ihrem autobiographischen Buch Anfang und Aufstieg schrieb sie: „Der beste Lehrmeister ist das Leben. Seine Höhen und Tiefen muß man durchlebt haben, um ein großer Künstler zu werden, ein Darsteller von Fleisch und Blut. Die Routine, die von Laien oft überschätzt wird, ist ja nur das äußere Kleid. Aber den Herzschlag einer Partie kann nur der fühlen, dessen Herz selbst schneller geschlagen hat in Schmerz und Freude, in Sünde und Sühne. Nur aus Lebendigem wird lebendes geboren.”
Das war auch bei den großen Frauengestalten Puccinis der Fall, die sie fast alle verkörperte und der alternde Maestro war voll des Lobes bezüglich Lotte Lehmanns Gestaltungskraft.
Am 27. März 1927, anläßllich der Beethoven-Zentenarfeier sang diese überragende Künstlerin unter der Leitung Franz Schalks erstmals die Leonore in Fidelio. Tiefer, ergreifender, herzlicher, inniger und mitreißender ist diese Figur wahrscheinlich nicht wieder dargestellt worden.
Ihre hauptsächlichsten Partner an der Wiener Oper waren Alfred Piccaver, Leo Slezak and später auch der junge Jan Kiepura.
Piccaver schrieb einmal in einem Brief:
„… es gibt unter den Wiener Sangesdamen die zierlichen Blümchen Rührmichnichtan, die überstolzen Palmwedlerinnen, auch hochdramatische Absolutistinnen genannt, die rampenlichtsüchtigen Sopran-Tigerinnen, die mit echtem Schmuck an Händen und Füßen klingeln und ihre Zungen herausstrecken, als wollten sie das Publikum beschlecken; aber es gibt nur eine Sängerin, die gerader heraus ist als gerad, die nicht um Glanz und Glorie buhlt und nach einem schlohweißen Lipizzaner verlangt, um in einer Puccini-Oper zu reiten. … diese Ausnahme, wie ich sagen möchte, ist Lotte. Ihr Familienname spielt in Wien keine Rolle, obwohl man ihn weiß. Aber: wer Lotte sagt, der sagt alles. . . und das braucht nicht erst verdolmetscht zu werden.”
Diese Wahrhaftigkeit Lotte Lehmanns erhielt durch ihre Gestaltung von Wagner Partien unerreichbare Glanzpunkte. Elsa in Lohengrin, Elisabeth in Tannhäuser, Eva in den Meistersingern und vor allem ihre Sieglinde in der Walküre. Mit dieser Rolle gab sie auch am 11. Jänner 1934 ihr Debüt an der Metropolitain Opera, New York. Ihre Partner waren dabei unter anderem Lauritz Melchior als Siegmund und Emanuel List als Hunding. Im Juni 1935 wurde in Wien unter der Leitung Bruno Walters der 1. Akt Walküre mit der gleichen Sängerbesetzung für die Schallplatte produziert.
In den dreißiger Jahren nahmen die Gastspielreisen Lotte Lehmanns immer mehr zu und mit der Zeit verlagerte sie ihr künstlerisches Wirken auf den Liedgesang.
Nun kam das Jahr 1938 – Lotte Lehmann sollte nach Berlin engagiert werden. Bei der Vertragsbesprechung kam es zwischen ihr und Hermann Göring zu einem gewaltigen Krach und Lotte Lehmann kehrte Wien und Deutschland den Rücken. [nicht ganz richtig] Darüber schrieb sie später: „Ich war ja schon viele Jahre in Amerika gewesen, hatte Land und Leute einigermaßen kennengelernt, als ich beschloß, ganz in den Staaten zu bleiben. Das war 1938, als Adolf Hitler in Österreich einmarschierte. Ich bin ja sozusagen arisch (dieses herrliche Wort!) und hätte aus diesem Grunde nichts zu befürchten gehabt. Aber da war der Krach mit Göring gewesen, dem das Verbot folgte, daß ich in Deutschland nicht mehr singen durfte. So glaubte ich, daß man mich einsperren oder mit mir sonst etwas machen würde, wenn diese Bande Wien eingenommen hätte. Aber selbst wenn ich das nicht befürchtet hätte: ich bin ein sehr freiheitsliebender Mensch, und ich hätte auf alle Fälle Wien verlassen, denn in Unfreiheit und unter Zwang leben, das Grauen vor Augen … Nein! Alle Welt wußte, daß ich gegen das Regime war. So bin ich weggegangen und habe mich ganz in Amerika niedergelassen.”
Sie wohnte vorerst in der Nähe von New York, wo ihr geliebter Gatte Otto Krause am 11. Jänner 1939 im Alter von 56 Jahren einer tückischen Krankheit erlag. Nach mannigfachen Schwierigkeiten übersiedelte Lotte Lehmann nach Santa Barbara, Kalifornien, wo sie bei ihrer Freundin Frances Holden bis zu ihrem Tode im Jahre 1976 lebte.
Lotte Lehmann absolvierte zu dieser Zeit viele Konzerttourneen quer durch die Vereinigten Staaten. Erst infolge ihres Wirkens wurde das amerikanische Konzertpublikum mit „The Lied”, wie es im anglo-amerikanischen Sprachraum heißt, erst so richtig bekanntgemacht. Mit Bruno Walter verband sie eine enge Künstlerfreundschaft. [schon in London u. Salzburg] Über diese Beziehung verfaßte Lotte Lehmann auch folgendes Gedicht:
Mit Bruno Walter am Klavier…
Es trägt sein Spiel, das sich mir tief verwebt,
mich fort auf wunderbaren Schwingen.
Ich fühle im Zusammenklingen
Hinströmend meine Seele singen,
Die nun im Willen seiner Hände lebt
und aufwärts schwebt zu lichten Höhen.
Vermählt in einer Melodie –
Geführt und führend – hingerissen
Eines dem andern folgen müssen
In tiefstem Voneinanderwissen:
Geheimnis ist’s der Harmonie.
und wahres, reines Sichverstehen.
Übrigens war auch ihre schriftstellerische Ader recht gut ausgeprägt. Unter ihren Werken befinden sich neun Bücher und auch einige Gedichtbände, darunter auch Verse in Prosa aus den frühen zwanziger Jahren, die sie ihren geliebten Eltern widmete. (Daraus möchte ich gerne den Beginn zitieren:)
Nach langen Tagen, arm an Freude reich an Sorgen, erklingen Abendglocken, und schöner Friede sinkt herab. Die Liebe, die du reich gesäet, blüht auf in reichem Erntesegen. Beglücke lang’ uns noch die Sonne, der Mutteraugen liebe Sonne! Weitab das Lied der Abendglocken mahnt uns an dunkle Nacht. Oft faßt mich eine Angst, Du könntest sterben, noch ehe ich das kleine rebumrankte Haus für dich gebaut, wie ich’s ersehne. Da sollst du wohnen in dem Frieden grüner Bäume, in deren Wipfeln einer abendlichen Sonne milder Schimmer golden träumt. Die Sorge ging an dir vorüber – du blickst ihr sinnend nach und weißt nichts mehr von ihr. Mild lächelnd siehst du auf in’s Licht – Und deiner Kinder Liebe singt von allen Zweigen…Das muß ein Großes sein: die Kraft zu tiefster Einsamkeit. Da oben sternennah zu wandeln, so hoch, daß aller Klang der Erde so wie ein Lied der Wogen wird, das ein urewig sprachenloses Rauschen dem Strand entgegenträgt. Das muß ein Großes sein: den kühlen Odem schneebedeckter Bergesgipfel zu spüren und zu wissen: das heiße Leben, das dort unten in den Tälern glüht, nicht findet es den Weg zu mir in meine Einsamkeit. Wo ist die Kraft, die mich hinaufreïßt in die Höhen, nach denen einzig meine Sehnsucht geht? Die Hände, die mich halten, heißen Liebe, Güte. Das muß ein schmerzlich Großes sein: die Kraft, aus lieben, gütigen Händen sich zu Iösen und einzugeh’n in stolze Einsamkeit.
Im Jahre 1945 nahm sie mit der Rosenkavalier-Marschallin Abschied von der Opernbühne. Doch sie legte ihre Hände nicht in den Schoß. Sie unterrichtete an der Music Academy of the West in Santa Barbara Gesang und hatte nun auch Zeit für ihre anderen mannigfaltigen Talente. Sie malte, machte kunstgewerbliche Arbeiten in den verschiedensten Techniken, schrieb Bücher und erntete auch damit Lob und Anerkennung. Dann kam der 16. Februar 1951. Madame Lehmann, wie sie von den Amerikanern überall genannt wurde, gab in der New Yorker Town-Hall ihr Abschiedskonzert.
Die Künstlerin erhielt zahllose Auszeichnungen und Ehrungen. Sie wurde noch zu ihren Lebzeiten zur Legende und zu einem Maßstab. Einem Maßstab, der heute manchmal schon fast verlorengegangen scheint. [kaum!] Einem Maßstab für Aufrichtigkeit, Einfühlungsvermögen, persönliche Ausstrahlung sowie eine natürliche Innigkeit. Alles, was sie tat, tat sie mit ihrem Herzen. Lotte Lehmann schrieb einmal: „Je stärker die Individualität eines Künstlers, um so weniger gilt für ihn der Begriff Konkurrenz”, und das traf auf sie selbst in ganz besonderen Maße zu. Die Künstlerin starb am 26. August 1976, 88-jährig, in ihrem Heim in Santa Barbara, und ihre Urne wurde in einem Ehrengrab auf dem Wiener Zentralfriedhof beigesetzt.
Jeder, der sie persönlich, von der Bühne, vom Konzertpodium oder nur durch ihre Schallplatten kennt, wird diese außergewöhnliche Frau, die ihr ganzes Leben der Kunst weihte, niemals vergessen.
Danksagung besonders an Frau Hertha Schuch, die mir zu diesem Manuskript mit Rat und Tat zur Seite stand.