“Aus Lotte Lehmanns Archiv” — Folge 1
Manuskript und Produktion: Georg Hirsch
Am Mikrofon Georg Hirsch. Heute stoebern wir im Archiv einer deutschen Saengerin, deren Spuren sich durch ganz Amerika ziehen. Lotte Lehmann, geboren 1888 im Perleberg, emigrierte 1938 in die USA, und in naechsten halben Stunde hoeren Sie eine Talkshow aus der New Yorker Metropolitan Opera, einen Lotte-Lehmann-Experten aus dem mittwestlichen Iowa und Klaenge von Richard Strauss aus dem sonnigen Kalifornien.
Musik: Richard Strauss, “Zueignung”
Der Kontrast koennte kaum groesser sein. Ein Picknick-Konzert im kalifornischen Santa Barbara mit einem Lied von Richard Strauss. Aber da genau liegt der Reiz der Music Academy of the West, die seit ueber 50 Jahren talentierte Musiker aus der ganzen Welt ausbildet. Intensive Sommerkurse in einer Atmosphaere, die Urlaubsstimmung weckt.
Ton: “Gartenatmosphaere” — Voegel, Grillen, Meeresrauschen, etc.
Santa Barbara liegt etwa zwei Autostunden noerdlich von Los Angeles und war schon immer ein Paradies fuer Wohlbetuchte. Schmucke kleine Villen zieren den Kern der Stadt, und in der Hauptstrasse reihen sich Modegeschaefte und feine Restaurants aneinander. Die Landschaft ist gepraegt von Blumenbeeten, Apfelsinenbaeumen, Palmen, und natuerlich vom Ausblick auf den Stillen Ozean.
Ton: “Gartenatmosphaere” — Voegel, Grillen, Meeresrauschen, etc.
Tief durchatmen und den Ausblick aufs Meer geniessen — so erholen sich auch die Studenten der Musikakademie, die in einer Villa mit einem praechtigen Garten untergebracht ist. Nach einem kleinen Spaziergang geht es zurueck in die Uebezelle, um mit frischen Kraeften weiterzuarbeiten.
Musik: “Zueignung”, Ende (nur ein paar Toene — Beifall)
Die Sopranistin Rinat Shaham und ihr Klavierbegleiter Thomas Bagwell in einer Aufnahme, die die Music Academy of the West vor zwei Jahren zu ihrem 50. Jubilaeum produziert hat. Die Zueignung von Richard Strauss waere vielleicht nie im Repertoire gelandet, wenn da nicht vor langer Zeit mal eine alte Dame gewesen waere, die den Komponisten noch persoenlich kannte. Lotte Lehmann gehoerte 1946 zu den Mitbegruenderinnen der Music Academy. Ueber zehn Jahre lang unterrichtete sie dort die Interpretation des deutschen Kunstliedes. Aber auch das gemeine Volk konnte von Lotte Lehmann lernen. Denn das amerikanische Radio uebertrug regelmaessig ihre Liederabende. In einer der Sendungen erklaert sie die Zueignung von Strauss — Weit weg von der Geliebten empfindet der Liebende die Sehnsucht als einen Segen, und die Melodie steigert sich von zurueckhaltendem Ausdruck in einen dramatischen Ausbruch des Jubels.
Lehmann: I shall sing “Zueignung”, “Devotion.” Far from the beloved, the lover feels even his longing for her as a blessing. The melody goes from restrained expression into a dramatic outburst of exultation. “Zueignung”, “Devotion.”
Musik: “Zueignung”, gesungen von Lotte Lehmann, vollstaendig.
Lotte Lehmann mit der “Zueignung” von Richard Strauss. Die Aufnahme entstand 1941, und am Klavier begleitet Paul Ulanowski. Die Freundschaft mit Strauss stammte aus einer Zeit, in der Lehmann sich in Wien ihre ersten Sporen verdiente. Das war im Jahre 1916, als die Wiener Hofoper sie gerade aus Hamburg abgeworben hatte. Wie Strauss der damals 24 Jahre alten Sopranistin zu einem Durchbruch verhalf, erzaehlte sie selbst beinahe ein halbes Jahrhundert spaeter.
Lehmann: Ich hatte dann im Anfang in Wien sehr huebsche Erfolge, aber fuer Wien muss man schon etwas Besonderes sein. Und dann kam die Strauss-Premiere der neuen Fassung von Ariadne, und ich hatte in zweiter Besetzung den Komponisten zu singen. Die erste Besetzung war Marie Gutheil-Schoder, die grosse, singende Schauspielerin, und sie sagte ab in einer der letzten Proben, und ich wurde gerufen, um die Probe moeglich zu machen, und Strauss war da. Ich hatte die ganze Zeit das Gefuehl “mein Gott, wenn ich nur diese Partie singen koennte.” Ich fuehlte, das war wie fuer mich geschrieben. Und ich sagte mir, “ich werde es ja nie singen, aber diese Probe will ich geniessen.” Ich hab’ mich weder um Strauss noch um Hoffmannsthal noch um irgendjemand gekuemmert und hab’mich in diese Rolle hineingeworfen, und nach der Probe sagte Strauss zu mir “Sie singen die Premiere.” Und ich hab’ gesagt, “nein, das kann ich der Gutheil nicht antun,” aber ich will mir keinen Heilgenschein aufs Haupt setzten. Ich hab’ mich dann sehr schnell bereden lassen es zu singen, natuerlich. Und das war mein groesster Erfolg in Wien. Von da an hab’ ich eigentlich all die grossen Rollen gesungen, von da an fing meine Weltkarriere an.
Von der Hosenrolle des Komponisten avancierte Lotte Lehmann schon bald zur Titelrolle der Ariadne.
Musik: Monolog der Ariadne
Der Schluss des Monologs der Ariadne, gesungen von Lotte Lehmann — bei der Wiener Premiere war diese Rolle allerdings ihrer aergster Widersacherin vorbehalten. Maria Jeritza war ein ganz anderer Typ als die Lehmann — sie hatte einen blonden Lockenkopf mit Gesichtszuegen von verfuehrerischer Schoenheit. Lehmann trug dagegen stets einen braven Mittelscheitel und war eher mit innerer Schoenheit gesegnet. Dazu Beaumont Glass, ein Musikprofessor aus Iowa City, der zu Lotte Lehmanns Zeiten in Santa Barbara als Klavierbegleiter und Korrepetitor arbeitete und spaeter ihre Biographie geschrieben hat.
Glass: In den Traeumen von Maennern war Maria die vergoetterte Maetresse, Lotte die innig geliebte Ehefrau. Die zwei Konkurrentinnen teilten ein aehnliches Repertoire. Und da Wien immer gluecklich war, wenn Funken auf der Opernbuehne herumspruehten, sangen die zwei Sopranistinnen oft in der selben Auffuehrung, aber Lotte konnte ziemlich sicher sein, dass wenn sie eine besonders heikle Phrase zu singen hatte, die liebe Kollegin die Chance wahrnehmen wuerde, als ob es ein Teil der Inszenierung waere, sie mit einem Rippenstoss aus der Fassung zu bringen.
— Zwischefrage Hirsch: “Meinen Sie das woertlich?”
— Ja, wirklich. Also Rippenstoss, schon, aber manchmal war es eine ueberheftige Umarmung, gerade im Moment wie sie einen Piano-Ton singen musste, zum Beispiel.”
Wenn die Jeritza in Wien ein bisschen zu heftig zupackte, dann hielt sie sich die Kokurrentin in New York vom Leib. Durch Intrigen konnte sie Lehmanns Debut an der Metropolitan Opera um einige Jahre hinauszoegern. Lotte Lehmann bekam ihre erste Chance an der Met 1934, dreizehn Jahre spaeter als Maria Jeriza, die ihr Debut 1921 in Korngolds Oper “Die tote Stadt” gab. Und wer ein absolutes Gehoer hat, oder eine Stimmgabel in Greifweite, oder wer einfach die Arie der Marietta gut kennt, der kann in den naechsten Minuten einen handfesten Vergleich anstellen. Denn die Arie der Marietta haben beide in den 20er Jahren eingespielt. Die sonst so glamoroese Jeritza drueckt sich in der vorliegenden Aufnahme vor dem hohen B. Lotte Lehmann laesst sich diesen Glanzpunkt dagegen nicht entgehen. Hoeren Sie also zuerst Maria Jeritza, und dann ein Stueckchen von Lotte Lehmann in der Arie “Glueck, das mir verblieb”.
Musik: Jeritza, Glueck, das mir verblieb
Soweit also Maria Jeritza, und nun die Erzkonkurrentin Lotte Lehmann mit dem Anfang der gleichen Arie aus Erich Wolfgang Korngolds Oper “Die Tote Stadt”.
Musik: Lehmann, Glueck, das mir verblieb
Soweit Lotte Lehmann in der Arie der Marietta aus Korngolds Oper “Die Tote Stadt”. Und wieder werden einige Fans den Stil der Maria Jeritza bevorzugen, waehrend andere sich auf die Seite Lotte Lehmanns schlagen. Im Jahre 1963 setzten sich die beiden inzwischen betagten Diven tatsaechlich noch einmal an einen Tisch. Anlass war eine der Live-Uebertragungen aus der Metropolitan Opera, deren Pausen oft durch Interviews gefuellt werden. Zuerst erzaehlt die Lehmann, wie Richard Strauss sie fuer die historische Ariadne-Urauffuehrung anwerben konnte. Und dann kommt eine sensationelle Enthuellung. Die Jeritza sagt, sie sei es gewesen, die damals den Namen Lotte Lehmann ins Spiel gebracht haette. Da bleibt der Lehmann nichts uebrig, als nachtraeglich dankeschoen zu sagen. Die tiefere Stimme gehoert Lotte Lehmann, die hoehere Maria Jeritza, und die Maennerstimme dem Moderator John Gutman.
Ton: Lehmann / Jeritza
Wie echt die Freundlichkeit war, mag dahingestellt sein. Bei einer anderen Kollegin war die Freundschaft dagegen felsenfest. Mit Elisabeth Schumann hatte die Lehmann praktisch zusammen angefangen, als die beiden ihre ersten Opern-Erfahrungen in Hamburg sammelten. Als Elisabeth Schumann 1952 starb, lebte Lotte Lehmann in Kalifornien. Und der Tod ihrer lebenslangen Freundin erschuetterte sie sehr, wie sie in einem Nachruf erkennen liess.
Ton: Lehmann: “Vor einigen tagen noch hatte ich einen brief von ihr, voll von optimismus und vorfreude auf ihren flug nach london, wo sie in der naehe ihres so sehr geliebten sohnes und seiner familie leben wollte.”
Lotte Lehmann liest den Brief vor und bricht dann in Traenen aus.
Ton: Lehmann: Wie traurig, wie schrecklich traurig, dass dieser wunsch ihr nicht erfuellt wurde, ihren sohn zu sehen (weint) und unter den bluehenden baeumen zu sitzen (weint) dem leben wieder gegeben und dem vogellied zu lauschen. heute frueh fand ich einen kleinen toten vogel in unserem garten (weint) — ich habe sehr geweint, nicht ueber das arme kleine leben, das ausgeloescht war und matt in meiner hand lag, nein, ueber ein vogelgleiches lied, fuer immer verstummt, ueber ein glueckliches Herz, das aufgehoert hat zu schlagen, ueber ein frohes, helles lachen, das nie mehr fragen wird, ‘erinnerst du dich noch, Lotte?” Fahr wohl, Elisabeth, ich werde nie vergessen.
Musik: Elisabeth Schumann “Ich muss wieder einmal in Grinzing sein”
Ich muss wieder einmal in Grinzing sein — eine Operettenarie von Ralph Benatzky in einer Aufnahme von 1938. Die Saengerin ist Elisabeth Schumann, die eine enge Freundschaft mit Lotte Lehman verband. Schumann galt als Spezialistin fuer heitere Rollen, aber auch die Lehmann war kein Kind von Traurigkeit. Hoeren Sie zum Schluss unserer Historischen Aufnahmen einen Schlager mit dem Titel “Heut’ macht die Welt Sonntag fuer mich”. Die Melodie ist vom Walzerkoenig Johann Strauss dem Juengeren entliehen, und die Aufnahme entstand 1941, als Lotte Lehmann bereits in Amerika lebte. Doch den Charme von Wien hatte sie nicht vergessen. Am Mikrofon verabschiedet sich Georg Hirsch — bis zur naechsten Woche, wenn wir ein weiteres Mal in Lotte Lehmanns Archiv graben.
Musik: Lotte Lehmann singt: Heut’ Macht die Welt Sonntag fuer mich”
“Aus Lotte Lehmanns Archiv” — Folge 2
Manuskript und Produktion: Georg Hirsch.
Am Mikrofon Georg Hirsch. Die Sopranistin Lotte Lehmann, der die naechste halbe Stunde gehoert, gilt als ein Aushaengeschild des deutschen Opern- und Liedgesangs. Sie hat viel dazu beigetragen, deutschsprachige Musik in den USA zu verbreiten, wo sie die letzten 38 Jahre ihres Lebens verbrachte. Meistens sang sie auf Deutsch, gelegentlich auf Englisch, und ganz selten auf Italienisch.
Musik: Visi d’Arte
Visi d’Arte aus Puccinis Oper Tosca, gesungen von Lotte Lehmann in einer Zeit, als italienische Opern ueblicherweise ins Deutsche uebersetzt wurden — jedenfalls an Opernhaeusern im deutschsprachigen Raum. Aber als diese Aufnahme im Herbst 1938 gemacht wurde, lebte Lotte Lehmann schon seit ein paar Monaten in den USA. Denn sie hatte fliehen muessen, als die deutschen Truppen in Wien einmarschierten. Ihren ersten Zusammenstoss mit Hitlers Regime hatte sie im Jahre 1934, als Hermann Goering ihr den Titel einer Staats-Saengerin anbot, mit Hoechstgagen und der Garantie fuer positive Kritiken. Lotte Lehmann aber lehnte ab und wurde eine persona non grata. In Deutschland bekam sie sofort Auftrittsverbot. Als sie vier Jahre spaeter auch in Wien mit den Nazis konfrontiert wurde, konnte sie mit einer herzlichen Aufnahme in Amerika rechnen. Denn ein paar Jahre lang war sie schon zwischen den beiden Kontinenten gependelt. So glaenzte sie 1936 an der San Francisco Opera als Sieglinde in Wagners Walkuere. Ihr Partner in der folgenden Aufnahme ist Lauritz Melchior in der Rolle des Siegmund.
Musik: Lotte Lehmann als Sieglinde
Lotte Lehmann in der Rolle der Sieglinde und Lauritz Melchior als Siegmund in einer Aufnahme aus dem Jahre 1936 mit der Oper in San Francisco unter der Leitung von Fritz Reiner. Nur der zweite Akt der Walkuere wurde damals aufgezeichnet, denn die Technik der Langspielplatte war noch nicht erfunden. Doch alleine der zweite Akt vereint schon drei der bedeutendsten Opernfiguren der 30er Jahre. Denn in der Rolle der Bruennhilde ist Kirsten Flagstad zu hoeren — in der folgenden Szene mit Friedrich Schorr als Wotan.
Musik: Kirsten Flagstad als Bruennhilde
Kirsten Flagstad als Bruennhilde in einer Aufnahme von 1936, in der Lotte Lehmann als Sieglinde zu hoeren ist. In den 30er Jahren stand Lotte Lehmanns Opernkarriere in voller Bluete, und doch hat es in Amerika ein paar Daempfer gegeben. Wenn die Lehmann erst 1934 ihre erste Chance an der Metropolitan Opera bekam, dann fuehren manche das auf Intrigen ihrer alten Rivalin Maria Jeritza zurueck. Und Kirsten Flagstad, die wir gerade als Bruennhilde gehoert haben, tauchte nur ein Jahr nach Lotte Lehmann an der Met auf. In der Gunst des Publikums stach die Norwegerin Lotte Lehmann sofort aus. Mehrmals machte sie ihr die Rolle der Sieglinde abspenstig, und was noch fataler war — die Rolle der Leonore, die in Europa als Lotte Lehmanns Spezialitaet gegolten hatte, ging in den USA immer an Kirsten Flagstad. Andererseits stand immerhin der gefeiertste und gefuerchtstste Dirigent auf der Seite von Lotte Lehmann, wie sie selbst einmal erzaehlt hat.
Ton: Lehmann ueber Toscanini: Ooh, wissen Sie, wer sagt, er hat nicht angst gehabt, der luegt, da ist nicht ein saegner auf erden der nicht angst vor ihm hatte, er war so eine Perfetkion, und er verlagnte die Perfektion von allen, aber wir waren ja doch keine Goetter, nicht, wir konnten ja nicht so, und ich war ueberhaupt so weit entfernt von Perfektion, ich habe einmal zu ihm gesagt ‘Maestro, Sie lassen mich wirklich ein bisschen freier, warum tun Sie das, weil Sie mich gerne haben?’ Und er hat mich beinahe erschlagen auf die Frage, ‘wie koennen Sie solche dumme Frage stellen, es ist weil Sie eine so grosse Kuenstlerin sind, und Sie sollen — ich lasse Sie frei, weil ich das gerne habe was Sie machen, und wenn Sie Fehler machen, schadet nichts, sie sind mir immer noch lieber als die die alles korrekt singen’.
In den USA konnte Toscanini seiner Lieblings-Saengerin zwar keinen Auftritt als Leonore sichern. In Salzburg aber hatte er genug Macht, um ihr zuliebe das Werk Beethovens umzuschreiben. Im Jahre 1935, als Lotte Lehmann 47 Jahre alt und stimmlich ueber ihren Hoehepunkt hinaus war, nahm er ein paar Veraenderungen an der grossen Arie der Leonore vor. Sie erlaubten der Lehmann, in einer tieferen Tonart zu singen und Problemen mit den Spitzentoenen auszuweichen.
Musik: Fidelio mit Toscanini, transponiert nach Es-Dur Lotte Lehmann als Leonore — im Mitschnitt einer Radiouebertragung aus Salzburg mit dem Dirigenten Arturo Toscanini. Niemand bezweifelt, dass Toscanini fuer Lotte Lehmann kuenstlerisch durchs Feuer ging. Ob hinter seinem Engagement eine andere Art von Feuer steckte, darueber ist viel spekuliert worden. Und sollte diese Frage dann relevant sein — nun, in diesem Falle gibt es inzwischen wohl eine zuverlaessige Quelle. Es sind die Briefe, die sich die beiden geschrieben haben, und von denen zumindest noch eine Haelfte existiert. Dazu Beaumont Glass, ein Musikprofessor in Iowa City, der Lotte Lehmanns Biographie geschrieben hat.
Ton: Glass: Nach seinem Tode gelang es einer gemeinsamen, vertrauten Mitwisserin, Lottes Briefe an Toscanini zu finden und an Lotte zurueckzuschicken, bevor seine Familie sie entdecken konnte. Lotte verbrannte diese Briefe. Aber seine Briefe an sie — das war eine andere Sache. Lotte riss sie in vier oder sechs ziemlich grosse Stuecke und warf sie in den offenen Kamin. Aber kein Feuer flammte dort und sie hatte nicht das Herz, ein Streichholz zu entzuenden.
Eine Freundin der Lotte Lehmann rettete die Schnipsel und versteckte sie in einem Geheimfach hinter einer Schublade. Erst in den 80er Jahren, als Lotte Lehmann schon lange tot war, fielen zufaellig ein paar der Brieffetzen aus dem Geheimfach hinaus. Frances Holden, die Freundin Lotte Lehmanns, half Beaumont Glass zu der Zeit gerade mit seiner Lehmann-Biographie. Und der Musikprofessor verfolgte die heisse Spur.
Ton: Glass: Mit meinem langen, duennen Arm und biegsamen Fingern gelang es mir, die letzten Ueberbleibsen anzulangen und aus ihrem Versteck auszugraben. Es handelt sich um sehr leidenschaftliche Liebesbriefe, die keine Zweifel enstehen lassen, dass jene Liebe eine durchaus unplatonische war.
Frage Hirsch: Wird die Oeffentlichkeit irgendwann die Chance haben, diese Briefe zu sehen?
Glass: Ich wollte Einschnitte aus den Toscanini-Briefen in meinem Buch beschreiben, aber ich musste Bewilligung von der Familie des Toscanini bekommen, und das wurde verweigert. Und ich muss sagen, vielleicht mit Recht (lacht), ich meine, ich waere nicht indiskret gewesen, aber andere Leute sollten diese Briefe wirklich nicht sehen, die sind wirklich sehr intime Sachen, wirklich.
In den Augen vieler Opernfans galt die Lehmann ja eher als der Inbegriff einer treuen und edlen Gattin, und immerhin war sie auch 13 Jahre lang verheiratet. Allerdings kam die Ehe auf merkwuerdige Weise zustande. Im Jahre 1922 hatte eine sehr reiche Frau Krause ihrem Mann Otto zum Geburtstag ein Hauskonzert mit Lotte Lehmann geschenkt. Der Beschenkte und das Geschenk verliebten sich sofort ineinander, und vier Jahre spaeter wurden sie ein Ehepaar. Als die erste Frau Krause starb, erbte Lotte Lehmann vier erwachsene Kinder, aber eigene hatte sie nie. Eine muetterliche Ausstrahlung versuchte unterdessen Hollywood auszunutzen. Im Jahre 1947 drehte MGM einen Film mit der Diva, die inzwischen eine 59 Jahre alte Witwe war. In dem Streifen “Big City” spielt sie die Mutter eines alleinstehenden Rabbi, der auf der Strasse ein Baby findet. Liebevoll taetschelt sie das Kind und singt es in den Schlaf.
Lehmann spricht und singt: Wiegenlied
Der Film stellt eine Art Grossfamilie dar, die aus der alten Dame und ihrem unverheirateten Sohn sowie zwei weiteren Junggesellen besteht, die alle unter einem Dach leben, um das Findelkind zu versorgen. Denn ein Richter hat verfuegt, dass derjenige Mann, der zuerst in den Stand der Ehe tritt, das alleinige Sorgerecht bekommt. Am Ende gibt es zwar keinen Sieger, aber dafuer bewaehrt sich die Hausgemeinschaft, deren Mitgleider zu allem Ueberfluss noch unterschiedliche Glaubensrichtungen vertreten. Die ganze Story scheint eine Parabel zu sein fuer den freiheitlichen Geist des Schmelztiegels Amerika, und so singen dann auch Lotte Lehmann und Famile am Ende aus voller Brust ein patriotisches Lied, das jeder gute Amerikaner auswendig kennt.
Lehmann singt “God Bless America”
Der Plan, Lotte Lehmann als Hollywood-Star aufzubauen, gelang nicht, denn der Film wurde ein Flop. Der Gedanke, dass drei unverheiratete Maenner ein Kind aufziehen koennten, war vielleicht zu provokativ fuer das puritanische Amerika der 40er Jahre. Aber letztenendes waere Lotte Lehmann sich wohl auch untreu geworden, wenn sie als Filmmutter der Nation aufgetreten waere. Tiere mochte sie viel lieber als kleine Kinder.
Lehmann bringt Vogel zum Lachen
Lotte Lehmann flirtet mit einem grossen, schwarzen Vogel, der auf ihrem Arm sitzt — das Bild ist auf einem Schmalspurfilm festgehalten, den sie und ihre Begleiter auf einer Australien-Tournee gedreht haben. Schon in den 30er Jahren entdeckten Lehmann und ihr Gatte, Otto Krause, das Filmen als ein Hobby, und so haben wir heute ein recht lebhaftes Bild von Lotte Lehmann im Alltag. Lebhaft und ausdrucksstark — das war die Lotte Lehmann noch bis ins hohe Alter. Als sie auf die 60 zuging, nahm sie Abschied von der Oper und konzentrierte sich auf das Kunstlied. Und als sie der Buehne ade gesagt hatte, wurde sie eine begehrte — und temperamentvolle — Lehrerin. Mehr darueber koennen Sie naechste Woche in der dritten und letzten Folge unserer historischen Aufnahmen mit Lotte Lehmann hoeren. Als Einstimmung beschliessen wir die heutige Sendung mit Schuberts Erlkoenig, gesungen von Lotte Lehmann. Am Mikrofon verabschiedet sich Georg Hirsch
Musik: Erlkoenig
“Aus Lotte Lehmanns Archiv” — Folge 3
Manuskript und Produktion: Georg Hirsch.
Am Mikrofon Georg Hirsch. In den letzten beiden Wochen haben wir die Sopranistin Lotte Lehmann als Operndiva, Liedsaengerin und Filmschauspielerin gehoert. Heute werfen wir einen Blick auf den letzten Abschnitt ihrer Laufbahn, den sie in den Dienst der juengeren Generation stellte.
Musik: Lehmann singt ein Schubert-Lied …
Das Oelgemaelde passt wunderbar zu Schuberts Winterreise. Es zeigt einen einsamen Wanderer an einem See mit entlaubten Baeumen und duerren Aesten, und auch die schwarz, blau und weissen Farbtoene spiegeln die melancholische Stimmung eines gluecklosen Liebhabers wieder. Die Kuenstlerin, die dieses Bild gemalt hat, muss eine tiefe Empfindung fuer Schuberts Liederzyklus gehabt haben. Es ist Lotte Lehmann. Malen und Dichten sind schon immer ihre Hobbies gewesen, und nun zeigt sie ihre Gemaelde in einem Vortrag im kalifornischen Santa Barbara. Schauplatz ist die Music Academy of the West, ein Konservatorium, das sie selbst nach dem zweiten Weltkrieg mit gegruendet hat.
Lehmann: The Winterreise, the Winter Journey. This cycle is …”Die Winterreise halte ich fuer die schoenste Gabe des Genies Schubert. Er schrieb die 24 Lieder im vorletzten Jahr seines tragisch kurzen Lebens. Die ersten zwoelf entstanden zu Anfang des Jahres 1827, und die ersten sechs Lieder hat er angeblich an einem einzigen Morgen geschrieben. Der Zyklus beginnt mit dem Abschied von der treulosen Geliebten und endet mit voelliger Resignation. Die ziellose Wanderung fuehrt durch eine absterbende Herbst- und eine bitterkalte Winterlandschaft. Der Tod, den der Wanderer staendig vor Augen hat, scheint die einzige Befreiung von den Qualen einer hoffnungslosen Liebe.” … the only liberation from the torment of hopeless love.”
Musik: Lehmann singt ein Schubert-Lied zu Ende
Auf das Lied konzentrierte sich Lotte Lehmann in der letzten Phase ihres bewegten Lebens. Geboren war sie am 27. Februar 1888 im Perleberg, ihren ersten Opernvertrag hatte sie in Hamburg, und von dort ging es weiter nach Wien. 1938 floh sie vor den Nazis in die USA, und zwei Jahre spaeter zog sie nach Santa Barbara, wo sie bis zu ihrem Tod im Jahre 1976 lebte. Ihre beruehmten Liederabende gab sie aber in der Town Hall in New York.
Musik: Schumann: ich grolle nicht, mit Bruno Walter
“Ich grolle nicht” aus Robert Schumanns Zyklus “Dichterliebe”. Die Aufnahme entstand 1941 mit Bruno Walter am Klavier. Als Lotte Lehmann aelter wurde, war ihr Wille zum Ausdruck manchmal staerker als die Stimme, sagt der Musikprofessor und Lehmann-Biograph Beaumont Glass. Heute unterrichtet Glass an der University of Iowa. In den 50er Jahren begleitete er Lotte Lehmann in Santa Barbara mit dem Lied von Schumann.
Ton: Beaumont Glass: Also ich war ueberrascht, wie sie diese Schlussphrase sang. Es war mit einem grossen Ritardano, und grosser Steigerung, und dann das Wort ‘elend’, da hat sie grossen atemzug geholt, “und sah, mein Lieb, wie sehr du eeelend bist” und sie hat sogar mit dem Fuss aufgestampft, (lacht) als sie Elend anstuermte. Es war sehr stark in der Wirkung, aber natuerlich, ich zweifle sehr, dass sie es so in Town Hall gesungen hat in New York, aber in Santa Barbara hat es eine grosse Wirkung gehabt.”
Das Temperament kam Lotte Lehmann auch als Lehrerin zugute. Ihre Meisterklassen, um die sich Studenten aus aller Welt rissen, zogen auch das Publikum in Scharen an.
Ton: Unterrichtsszene mit Lotte Lehmann
Die junge Saengerin, deren “Elsa” Lotte Lehmann auseinandernimmt, hiess Evangeline Noel, und sie erinnert sich auch nach 40 Jahrern noch lebhaft an die Meisterklassen.
Noel-Glass: I will never forget when she was on her knees …
“Ich werde nie vergessen wie sie einmal neben mir kniete und ich voellig hingerissen war. Da wirkte sie wie eine 17-jaehrige. Auch wenn sie schon Arthritis hatte, dann war sie doch wie verwandelt, wenn ihr Gesicht vor Energie ueberspruehte. Die Augen hatten eine unglaubliche Ausstrahlung, und ihre Lebedigkeit elektrisierte jeden, der mit ihr zu tun hatte. Sie wirkte wie ein Vulkan und hatte sich doch voellig unter Kontrolle. Also, das Wort Genie wird heute viel zu leichtfertig gebraucht, aber Lotte Lehmann war ein Genie.” … but the word people use so losely nowadays was genius.
Wenn Fraeulein Noel sich auf ihren Unterricht vorbereitete, half ihr ein junger Pianist namens Beaumont Glass. Und die freundliche Atmosphaere von Santa Barbara hatte einen angenehmen Nebeneffekt. Aus Evangeline Noel wurde Evangeline Noel Glass. Ihr Gatte hat manchen zukuenftigen Star kennengelernt — darunter auch Grace Bumbry.
Ton: Glass: Ich war der Begleiter beim zweiten Liederabend. Es war in San Francisco am 27. Februar, Lottes 70. Geburtstag, welcher nach dem Konzert offiziell in Anwesenheit von vielen prominenten Gaesten gefeiert wurde. Grace hatte grossen Erfolg bei den Kritikern wie beim Publikum. Ein paar Jahre frueher hatte Grace ganz anders als Darstellerin gewirkt. Im grossen Duett von Aida hatte sie die Amneris zu spielen — damals sang sie Mezzosopran. An einer Stelle wollte Lotte, dass sie den Arm hochhebt. Das konnte sie einfach nicht. Sie versuchte. Sie hob ihn einige Zentimeter und liess ihn wieder fallen. Unmoeglich. Aber innerhalb weniger Monate hatte Frau Lehmann es ihr beigebracht, sich ganz natuerlich und lebendig auf der Buehne zu bewegen.
Grace Bumbry, die heute in der Schweiz lebt, hat selbst einmal bekundet, wie viel sie Lotte Lehmann zu verdanken hat.
Ton: Bumbry: Die Frau Lehmann zeigte mir, was es heisst eigentlich, einen Text zu interpretieren, auch eine Rolle zu interpretieren. Und das war eine andere Welt. Sie hatte mich gelehrt, wie wichtig das ist, in den anderen Schuhe reinzusteigen. Das heisst, an der Schuhe von dieser Rolle, von Opus Eboli, oder Carmen, oder Amneris, oder Norma, man muss diese Person sein, und nicht Grace Bumbry. Die Lotte Lehmann war mein Mentor gewesen, und sie hat das alles fuer mich gemacht, Vorsingen arrangiert, Reisen arrangiert, und das ganze europaeische Musikleben gezeigt.
Musik: Le Cid, Arie des 2. Aktes
Grace Bumbry als Chimene in Jules Massenets Oper “Le Cid”. Die Aufnahme entstand 1976 mit dem Opera Orchestra of New York. Zu den Star-Schuelerinnen von Lotte Lehmann gehoert uebrigens auch Marilyn Horne, die inzwischen selbst die Gesangabteilung in Santa Barbara leitet. Unterdessen ist die Akaemie um einiges gewachsen, sagt der Praesident, David Kuehn.
Ton: Kuehn: When Lehmann was here in the early years … “Zu Lotte Lehmanns Zeiten gab es hier viel weniger Studenten als heute. Es waren so 50 oder 60, und fast alle waren Saenger. In spaeteren Jahren verschob sich der Schwerpunkt der Ausbildung vom Gesang auf Instrumentalunterricht, und ausserdem haben wir inzwischen ueber 130 Studenten. Davon sind so ungefaehr 20 in der Gesangabteilung. Dafuer haben wir jetzt ein gutes Orchester fuer Opernauffuehrungen und vielseitige Programme fuer unsere oeffentlichen Konzerte. Vokalisten und Instrumentalisten sind besser ausbalanciert als vor 40 Jahren.” … so it’s a much more balanced program than it probably was 40 years ago.
Immerhin gab es an der Akademie auch in den 50er Jahren schon Operninszenierungen, bei denen natuerlich Lotte Lehmann die Impulse gab. Und 1962 wurde sie als Regieberaterin an die New Yorker Met geholt. Auf dem Programm stand ein Werk, mit dem sie grossgeworden war. Im Rosenkavaliervon Richard Strauss hatte sie sich von der Partie der Sophie ueber die Hosenrolle des Oktavian bis zur Marschallin hochgearbeitet.
Musik: Monolog der Marschallin
Der Monolog der alternden Marschallin in einer Aufnahme der Wiener Oper von 1933. Lotte Lehmann machte auch aus ihrem eigenen Alter das beste. Im Jahre 1969 zog die 81-jaehrige Lotte Lehmann Bilanz.
Ton: Fischer Karvin: Ich weiss nicht, ob ich Sie das fragen kann, Gnaedige Frau — was war der aufregendste Moment Ihrer Karriere?
Lehmann: Ich glaube, das war, als Toscanini in einer Probe nach einer grossen Fidelio-Arie zum ersten Mal “bene” sagte. Dieses ‘bene’, gut, das war so als wenn ein anderer sagt ‘grossartig, herrlich,’ das habe ich nie vergessen. Und wenn ich heute zurueckdenke an mein Leben, so muss ich auch sagen, ‘bene’, denn das Gute hat stets das Boese ueberwunden, und kann man etwas Besseres von seinem Leben sagen?
Lotte Lehmann starb am 26. August 1976 im kalifornischen Santa Barbara. Sie war eine amerikanische Staatsbuergerin geworden, aber beerdigt wurde sie in Wien. Zum Abschluss unserer historischen Aufnahmen hoeren Sie zwei Weihnachtslieder, die Lotte Lehmann am 24. Dezember 1941 in einem ihrer Radio-Konzerte sang. Zuerst “O Tannenbaum” auf Deutsch, dann “Stille Nacht” auf Englisch. Vor diesem Lied wuenscht sie ihren Hoerern inneren Frieden — 17 Tage nach dem japanischen Angriff auf Pearl Harbor, der die USA in den 2. Weltkrieg zog. Und am Schluss verabschiedet sich Lotte Lehmann von ihren Hoerern in der Hoffnung, ihnen ein bisschen Unterhaltung verschafft zu haben. Mit dem gleichen Wunsch verabschiedet sich von Ihnen Georg Hirsch.
Musik: O Tannenbaum / Silent Night